In Göttingen häufen sich die Fälle gewalttätiger Übergriffe aus den Reihen studentischer Verbindungen. Nun wollen Linke die »rechte Konjunktur lahmlegen«.
In der Göttinger Bühlstraße 28 ist man einiges gewohnt. Das linke Wohnprojekt liegt zwischen der Innenstadt und dem Ostviertel, in dem die Häuser zahlreicher studentischer Verbindungen angesiedelt sind. Nicht selten kommt es deshalb vor, dass sich korporierte junge Männer auf dem Grundstück der WG herumtreiben. Die Ereignisse vom Sonntag, dem 19. Juli, können die Bewohner trotzdem noch immer schwer fassen. Durch das geöffnete Fenster rauschten plötzlich kleine Geschosse in ein Zimmer und verfehlten die anwesenden Personen nur äußerst knapp. Aus dem gegenüberliegenden Gebäude der Burschenschaft Germania war mit einer Druckluftwaffe auf das Nachbarhaus geschossen worden. Nach dem ersten Schock und einem erfolglosen Versuch, die Täter zur Rede zu stellen, wurde die Polizei informiert, die anschließend zwei sogenannte Softair-Gewehre konfiszierte und Ermittlungen wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung einleitete. Die Burschenschaft distanzierte sich, ihren Angaben zufolge seien die Tatverdächtigen zum Zeitpunkt der Schüsse keine Mitglieder gewesen.
Die Bewohner der Bühlstraße machten den Vorfall dennoch öffentlich. Sie fürchten zum einen, dass die Tat sonst bagatellisiert werde, weil die zuständigen Polizeibeamten bereits über etwaige Provokationen durch linke Transparente an der Hausfassade spekuliert hatten. Zum anderen möchten sie sich von den unliebsamen Nachbarn nicht einschüchtern lassen und auf die Kontinuität der Übergriffe aus dem Verbindungsmilieu hinweisen. So berichten die Bewohner über mehrere Fälle von Diebstahl, Vandalismus und körperlicher Gewalt, die sich alleine in den vergangenen Monaten in unmittelbarer Nähe ihres Hauses zutrugen. Einen bedauerlichen Zufall wollen sie in der Häufung der Vorkommnisse nicht sehen. Während der Auseinandersetzungen um ein neues Mietverhältnis – die Stadt plante, die Immobilie zu verkaufen – war das Haus in der Bühlstraße als linke WG bekannt geworden. Die Bewohner glauben, dass sie dadurch zum Ziel von Stimmungsmache unter den Verbindungsstudenten geworden sind. Insbesondere scheint sich diese auch gegen die Göttinger Wohnrauminitiative zu richten, in der sich neben der Bühlstraße 28 weitere Wohnprojekte zusammengeschlossen haben (Jungle World 44/2014). So wurden in der Bühlstraße wiederholt Transparente geraubt sowie ein Info-Schaukasten zerstört.
Auch ein Sprecher der Wohnrauminitiative weiß von korporierten Gewalttaten zu berichten. Nur wenige Tage vor den Schüssen aus dem Verbindungshaus ist er selbst Opfer eines solchen Vorfalls geworden. Zufällig bemerkte er, wie sich mutmaßliche Mitglieder der Landsmannschaft Verdensia darum bemühten, einen »Fuck AFD«-Schriftzug von ihrer Hausfassade zu putzen. Beim Versuch, den Vorgang zu fotografieren, wurde er von zwei mutmaßlichen Verbindungsmitgliedern körperlich angegangen und so heftig vom Fahrrad gestoßen, dass er sich schwer am Knie verletzte. Der Sprecher ist sich sicher, dass es sich nicht um ein Missgeschick, sondern um einen rechten Übergriff handelte, schließlich konnte er im Nachhinein mindestens einen der Angreifer identifizieren. Dieser wurde erst vor wenigen Wochen auf Indymedia als Couleurstudent und Anhänger der extrem rechten Identitären Bewegung geoutet. Die Polizei ermittelt auch in diesem Fall wegen gefährlicher Körperverletzung.
Das unmittelbare Aufeinanderfolgen der beiden Attacken mag zufällig erscheinen, überraschend kommt es aber nicht. Sahen sich die Göttinger Verbindungen wohl auch infolge der bundesweiten medialen Diskussion über Arierparagraphen und neonazistische Verwicklungen zur Zurückhaltung genötigt, scheint sich die Stimmung inzwischen geändert zu haben. Die Bewohner der Bühlstraße erzählen, dass sie die Mitglieder der Studentenverbindungen gegenwärtig »präsenter und dominanter« erleben. Tatsächlich sind farbentragende Männergruppen immer häufiger in der Stadt zu beobachten und auch andere linke WGs schildern Auseinandersetzungen mit Verbindungsstudenten.
Gegen diesen Trend ist nun unter dem Motto »Die rechte Konjunktur lahmlegen« für den kommenden Montag eine Demonstration angekündigt. Die Veranstalter kritisieren das Milieu von Elitedünkel, (Deutsch-)Nationalismus und Männlichkeitskult, in dem die korporierte Gewalt gedeihe. Diese Gewalt sei nicht neu: In »Marburg tötete im Oktober 2014« ein Burschenschafter einen Studenten »im Streit um ein Einstecktuch«, schreiben sie in ihrem Aufruf. Angesichts dessen muss man in der Bühlstraße 28 fast froh sein, dass es lediglich eine Softair-Waffe war, die zum Einsatz kam. Die Wohnrauminitiative verweist hingegen auf die Dimension antilinker Hetze, die hier tätlich wird. »Wir möchten dies als explizit politische Handlungen verstanden wissen«, fordert eine Bewohnerin der Bühlstraße.
Zustimmung erfahren sie in dieser Hinsicht offenbar durch große Teile der Göttinger SPD, die einen Antrag an ihren Bundesvorstand auf Ausweitung eines seit 2013 bestehenden Unvereinbarkeitsbeschlusses stellte. Demnach soll die gleichzeitige Mitgliedschaft in der Partei und in einer studentischen Verbindung gänzlich verunmöglicht werden. Auf wenig Verständnis trifft diese Forderung erwartungsgemäß beim Lassalle-Kreis, einem Zusammenschluss korporierter Sozialdemokraten. Auf ihrer Website verharmlosen sie die Geschehnisse zu bloßen »Konflikten in der Göttinger Studentenszene«.
Mehrfach haben sich in den vergangenen Wochen Verbindungsstudenten widerrechtlich Zutritt zu den Räumlichkeiten des linken Fachschaftsrates Sozialwissenschaften an der Uni verschafft, Plakate von den Wänden gerissen und anwesende Personen beschimpft. Dieses Verhalten wirkt wie ein weiterer Versuch aus dem Verbindungsmilieu, diejenigen einzuschüchtern, die sich gegen ihr Treiben engagieren. Auf solidarische Unterstützung durch das zuständige Dekanat warteten die Fachschaftsmitglieder vergeblich. Umso erfreulicher ist, dass die Universität mittlerweile immerhin, einer langjährigen Forderung nachgekommen ist und die Verlinkungen studentischer Korporationen vorerst von ihrem Internetauftritt entfernt hat. Dass rechte Verbindungen allerdings nach wie vor, wie es die Universitätspräsidentin formulierte, »Teil des studentischen Lebens in Göttingen« bleiben, steht tatsächlich zu befürchten.
Quelle: Simon Volpers in „Jungle World“ Nr. 32, 06.08.2015